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Die statistische Wahrscheinlichkeit, entführt zu werden, ist somit in Deutschland äußerst gering. Zählt man jedoch zu dem Personenkreis, der eine hohe Position bekleidet (z.B. Politiker) oder zu den wohlhabenden Persönlichkeiten, steigt das Gefährdungsrisiko sprunghaft. Bekanntheitsgrad ist jedoch kein zwingendes Merkmal. Immer wieder werden auch nicht bekannte Persönlichkeiten mit dem Ziel der Gelderpressung entführt. Häufig besteht dabei eine Täter-Opfer-Beziehung. Wenige Entführungen mit kleinen Lösegeldforderungen sind bekannt. Der Täter geht durch eine aufwendige Planung und eine hohe Festnahmewahrscheinlichkeit Risiken ein, die ihn in der Regel zwingen, ein neues Leben nach der Entführung zu planen. Die Mehrzahl der Entführten in Deutschland ist männlich, ca. die Hälfte sind Kinder, die meisten zwischen 14–16 Jahre. Knapp 90 Prozent der Entführten kommen lebend frei. Bei den Kindern nur ca. 50 Prozent. Das Tötungsrisiko für Kleinkinder ist geringer, da Täter hier eine niedrigere Identifizierungsangst haben. Es ist am Tag der Entführung am höchsten und sinkt nach vier Tagen deutlich ab. Das Tötungsrisiko ist außerdem bei Einzeltätern ungleich höher so wie bei nichtmaskierten Tätern. Eine Häufung von Entführungen gibt es nach statistischen Auswertungen von Oktober bis Dezember. Die wenigsten Entführungen erfolgen am Wochenende, vermutlich, weil das Opferverhalten am Wochenende weniger gut eingeschätzt werden kann. Bevorzugte Tage: Donnerstag, Freitag, Montag. Die meisten Entführungen liegen in Zeiten, in denen das Opfer die Wohnung oder das Büro verlässt oder betritt. Die Entführungen finden vorzugsweise auf der Straße statt. Entführungen dauern in Deutschland selten über dreißig Tage. Bei den Tätern handelt es sich vielfach um bereits einschlägig Vorbestrafte. Hierin liegen die Gefahren für Geiseln. Neben den allgemeinkriminellen Amateuren gibt es Schwerkriminelle (Beispiel Fiszmann) und zusätzlich Profis, die sich intensiv auf den Coup vorbereiten (Beispiel Reemtsma). Die meisten Täter arbeiten in Gruppen von zwei bis drei Personen. Nur gelegentlich sind Frauen auf der Täterseite. Über drei Viertel der Täter zeigen eine hohe Gewaltbereitschaft, ohne dass diese zur Tötung des Opfers führen muss. In den letzten Jahren verzeichnen wir eine qualitative "Verbesserung" von Tatplanung, Tatsteuerung und Tatorganisation. Das Kommunikationsverhalten von Tätern durch Verwendung von Tonkonserven, Funk, Mobiltelefonen oder Datensystemen hat sich weiter anonymisiert und erschwert die Ermittlungsansätze. Entführungsgefährdet im Ausland sind wohlhabende Personen auf Reisen in sicherheitskritischen Ländern oder wenn sie in diesen zumindestens zeitweise wohnen. Entführt werden bevorzugt auch "Expatriates" von westlichen, US- oder japanischen Firmen. Als besonders sicherheitskritisch für Westeuropäer gelten derzeit: In Südamerika: Kolumbien, Brasilien, Venezuela. In Mittelamerika: Mexiko. In Westeuropa: Italien. In Osteuropa: Russland, Tschetschenien. Darüber hinaus: Pakistan, Algerien, Jemen. In Kolumbien, das seit vielen Jahren in der Entführungsstatistik weit vorn liegt, wurden 2001 erstmals über 3000 Entführungen registriert. Entführungen sind zunehmend in Mexiko ("express-kidnap") und auf den Philippinen ein ernsthaftes Problem für Geschäftsleute und Touristen. In Mittel- und Südamerika ist über die Jahre eine regelrechte Entführungsindustrie entstanden. Die Entführungsorganisationen arbeiten grundsätzlich anders als bei uns. Die Überlebenschance beträgt weltweit dennoch über neunzig Prozent. Ca. sieben Prozent sterben bei der Tötung der Entführer (z.B. bei Flucht), durch Verwundungen oder Krankheiten. Die Verweildauer kann Monate betragen (in Kolumbien bis zu zwei Jahre). Die Verhandlungen in den lateinamerikanischen Ländern führen zumeist zu einer drastischen Senkung der Anfangssumme (initial demand). Die Einigung (settlement) liegt oft bei ca. 20 bis 30 Prozent der anfangs geforderten Summe. Das Geld fließt häufig in politische Guerillabewegungen, die – wie in Kolumbien – ca. 20 bis 30 Expatriates permanent in Entführungshaft haben. Für wohlhabende Einzelpersonen oder deren Angehörige gilt: intensives Studium der Sicherheitsrisiken vor Antritt eine Reise. Abbildung 2: Lösegeldverhandlungen in Lateinamerika Das System einer EntführungEine Entführung ist aus Sicht von professionell vorgehenden Tätern ein Projekt, das lange vorbereitet sein muss, organisatorischen Geschicks und der Kreativität bedarf. Von der Zielauswahl bis zum späteren Geldausgeben darf bei einer professionellen Entführung nichts dem Zufall überlassen bleiben, wenn das Geschäft "Geld gegen lebende Geisel" aufgehen soll. Die Planungsqualität der Täter gibt sofort ersten Aufschluss über deren Professionalität. Der klassische Ablauf einer Entführung hat – unabhängig, wo sie vorkommt – ein System und beinhaltet in der Regel folgende neun Phasen:
Phase 1: Die ZielauswahlTäter gewinnen die Informationen über die Lukrativität ihrer Opfer aus...
Oft führt ein Foto, eine Nachricht oder ein Interview zu der Entscheidung für eine Person. Begehrt sind Listen über den Reichtum von Einzelpersonen. Professionelle Täter haben mehrere Opfer auf der Liste, wie zu Zeiten der RAF. Je mehr ein potentielles Opfer "low profile" lebt, um so höher ist die Chance, nicht identifiziert zu werden. Babys und Kleinstkinder werden weniger entführt, weil sie für den Täter zu pflegeintensiv sind, Ehefrauen reicher Einzelpersonen sind eher "Sekundärziele". Die eigentlichen Repräsentanten des Geldes sind in Deutschland unverändert am meisten gefährdet. Besonders gefährdet sind reiche Personen, die sich zurückgezogen haben und nicht mehr im Geschäftsleben stehen (Beispiel Reemtsma). Diese reduzieren aus Sicht der Täter den Mitspielerkreis erheblich. Phase 2: Die ObservierungNachdem nun die Entscheidung des Täters für ein Ziel getroffen ist, will er in dieser Phase die Machbarkeit der Entführung herausfinden und Aufschluss über die eigenen Risiken gewinnen. Dazu wird er soviel wie möglich an Informationen über das Regelverhalten des Opfers und dessen Umfeld erfahren wollen. Oft werden wochenlang Wohnhaus, Arbeitsbereich, Schulbereich, Ferienwohnungen etc. observiert. Dieses kann aus dem getarnten Auto, als Spaziergänger, Fahrradfahrer, von einer konstruierten Baustelle, durch Telefonanrufe, Aushorchen von Bekannten etc. erfolgen. Gute Auskunftsgeber sind Kinder und Hauspersonal. Zweck ist es, den bestmöglichen Ort und Zeitpunkt für den geplanten Überfall herauszufinden. Phase 3: Der ÜberfallDiese Phase ist für die Entführer wie für den Entführten äußerst risikoreich. Die Täter sind extrem nervös, angespannt, misstrauisch und haben Angst, erkannt zu werden. Alles Unerwartete erleben sie als Angriff. Der Umgang mit Waffen ist zumeist ungeübt. Das Opfer ist fast immer völlig überrascht, oft gelähmt vor Angst oder kämpft in Notwehr um das eigene Leben. Es wird vielfach Gewalt angewendet, jedoch nicht mit dem Ziel, das Opfer zu töten. Ein totes Opfer ist wertlos, politisch oder finanziell, es sei denn, der Familie kann anschließend vorgetäuscht werden, dass das Opfer lebt. In der Phase des sich abzeichnenden Überfalls hat das Opfer vielleicht eine Chance, durch rechtzeitiges Fliehen mit dem Fahrzeug zu entkommen. Bei gelungenen Überraschungsaktionen sollte sich das Opfer defensiv verhalten und nicht den Helden spielen. Das Opfer wird sehr oft betäubt, es werden die Augen verbunden oder ein Sack über den Körper gezogen. Gelegentlich werden klare Hinweise hinterlassen, die signalisieren, dass man eine oder mehrere Personen entführt hat und es nicht um Diebstahl oder Raub von Sachwerten geht. Alle Täter hinterlassen Spuren. Mit dem Überfall beginnen somit auch die Ermittlungsarbeiten der Polizei am Tatort. Wichtigster Grundsatz für eine überfallene Person ist, nicht zu versuchen, die Maskierung vom Kopf des Täters zu reißen. Die Identifizierung eines Täters bedeutet den sofortigen Kollaps der Täterplanung und ist oft das Todesurteil für das Opfer, sofort oder später. Phase 4: Der Transport in ein VersteckDer Abtransport des Opfers ist für die Täter ein weiteres Problem, bei dem unerwartete Ereignisse auftreten können. (Andere Personen, Fahrzeuge, Schreien des Opfers etc.). Gelegentlich muss das Opfer zu Fuß eine längere Strecke transportiert werden (Reemtsma). Dieses kann physisch mühsam sein oder kritische Zeit kosten. Oftmals wird die Flucht im Wagen des Entführten angetreten und das Fahrzeug bald darauf planmäßig gewechselt. Vielfach wird aus Tarnungsgründen ein geschlossener Lieferwagen gewählt. Das Opfer liegt sonst zusammengekauert im Fond des Autos oder im Kofferraum. Während für die Täter nach einem erfolgreichen Überfall und Verlassen des Tatortes die Erregungsschwelle sinkt und das erste Erfolgserlebnis die Gedanken bestimmt, befindet sich das Opfer in völliger Ungewissheit über sein Schicksal. Der Angstabbau hängt nun davon ab, wie schnell das Opfer den Vorgang als Entführung realisiert und diese innerlich annimmt. Dieses wird auch davon abhängen, ob die Entführer dem Überfallenen entsprechende erklärende Hinweise zu seiner Situation geben. In der Regel erfolgt dieses in den ersten Stunden nach dem Überfall. Phase 5: Das Verwahren in einem oder mehreren VersteckenEine durchorganisierte Entführung wird erst realisiert, wenn die Unterbringung des oder der Opfer über einen längeren Zeitraum gewährleistet ist. Das kann in einer Hütte in abgelegenen Gebieten, in einer Fels- oder Erdhöhle, unter einer Autobahnbrücke, in einem Haus im Keller, in sonstigen abgeschotteten Räumen oder in einer Garage sein, in die ohne auszusteigen eingefahren und in der be- und entladen werden kann. Im städtischen Bereich und bei kleineren Organisationen kommt es den Entführern darauf an, dass das Opfer möglichst keine Informationen erhält, die zur Täteridentifizierung führen können. Die Opfer werden deswegen oft zusätzlich in völliger Dunkelheit und z.T. gefesselt in Zelten, vorbereiteten Schränken oder Kisten oder zumindest mit verschlossenen Augen verwahrt. Sie werden den Umständen entsprechend gut versorgt. Die Auswertungen zeigen, dass in über 80 Prozent die Behandlung human war, also z.B. die Versorgung mit Lebensmitteln, Medizin, Lesestoff gegeben war. In einigen Fällen wurden die Opfer bewusst seelischen Torturen ausgesetzt, z.B. durch Scheinexekutionen oder Ankündigungen von Verstümmelungen. Diese erfolgen tatsächlich nur höchst selten. In Dritte-Welt-Ländern leben Opfer meistens unter ähnlichen Bedingungen wie ihre Bewacher, oftmals besser. Die Verstecke werden oft gewechselt. Dieses kann nächtelanges Marschieren bedeuten. Es gibt Fälle, in denen die Opfer oder deren Gepäck getragen wurden, es gibt aber vereinzelt Todesfälle als Folge körperlicher Gebrechen. Das Opfer wird also in aller Regel körperlich intakt gehalten, leidet in Dritte-Welt-Ländern meistens unter Mückenstichen und Durchfall, und steht in fast allen Fällen unter erheblichem psychischen Druck. Phase 6: Die VerhandlungenMeistens erfolgt schon wenige Stunden oder Tage nach der Entführung die erste Kontaktaufnahme mit dem persönlichen oder dem geschäftlichen Bereich des Entführten. Die Verhandlungen mit Entführern stehen unter einer klaren Zielvorgabe: Die Täter wollen möglichst viel Geld, die Familie möglichst bald eine unversehrte Geisel zurück. Die Täter haben die Initiative des Handelns und mit dem Leben der Geisel die erforderlichen Druckmittel. Fast immer gilt:
Verhandlungen in einer Entführung oder Geiselnahme gehören zu den schwierigsten Aufgaben bei dem intellektuellen Kampf um ein Menschenleben. In diesem Schachspiel Leben gegen Geld müssen Täter- und Opferpsychologie und die individuellen Fallumstände berücksichtigt werden. In Deutschland wird diese Aufgabe in der Regel durch die Verhandlungsgruppe und Beratergruppe der Polizei wahrgenommen. Der Verhandlungsführer/Unterhändler kann sich physisch bei der Familie oder außerhalb befinden. Insbesondere muss er in der Lage sein, ein Vertrauensverhältnis zur Täterseite herzustellen und im Rahmen der vorgegebenen Strategie die einzelnen Teilziele zu erreichen. Dabei erfolgt die Kommunikation nach Möglichkeit in beiderseitigem Interesse an definierten Tagen zu bestimmten Zeiten ("windows") und möglichst über eine festgelegte Telefonnummer. In den meisten Fällen werden Telefongespräche bevorzugt, weniger der Briefkontakt, häufiger Anzeigen und nur selten ein persönlicher Kontakt ("face to face"). Die Telephongespräche sind meistens kurz. Die Briefe kommen per Post oder werden so platziert, dass sie einfach gefunden werden können. Der geforderte Geldbetrag ist vielfach ein Betrag in Millionenhöhe. Die Obergrenze (Reemtsma) liegt derzeit bei 30 Millionen Mark. Der Verhandlungsprozess lässt sich, wie irrtümlich oft angenommen wird, durch schnelles Eingehen auf die Forderung nicht verkürzen. Dieses führt vielfach zu einer unmittelbaren Aufstockung der Forderung. Es ist also von entscheidender Bedeutung, welche Strategie und Taktik angewendet werden soll. Dazu gehört, dass schon bei Beginn der Verhandlungen ein Beweis dafür erbracht wird, dass der Entführte im Gewahrsam der Geldforderer ist und vor allem lebt (Lebensbeweis / Proof of Life - POL). Dieser POL ist in allen folgenden entscheidenden Verhandlungsphasen jeweils abzurufen, insbesondere vor der Einigung und vor der Geldübergabe. Der Lebensbeweis kann z.B. eine Videoaufnahme sein oder eine aktuelle Information aus dem persönlichen oder geschäftlichen Bereich, die nur der Entführte geben kann. In der Verhandlungsphase besteht gelegentlich die Möglichkeit, briefliche Kontakte zwischen dem Entführten und den Angehörigen herzustellen oder Kleidung und Medikamente hinzuführen. In Kolumbien verfügen die großen Organisationen über eigene Ärzte oder organisieren ärztliche Hilfe für den Entführten. Die Verhandlungen werden besonders dann schwierig, wenn mehrere Personen entführt worden sind und damit die Wahrscheinlichkeit der Tötung einer Person höher ist. Ohnehin werden Tötungen bzw. Verstümmelungen zwischendurch angedroht oder auch mit der Entführung weiterer Personen gedroht. Zeit und Angst sind also die Waffen der anderen Seite. Der Fortgang der Verhandlungen wird durch den individuellen Fall bestimmt. Dabei steht in Deutschland die Höhe der Lösegeldforderung eher im Hintergrund (anders als in Dritte-Welt-Ländern). Im Vordergrund steht die Auseinandersetzung mit den technischen und logistischen Forderungen sowie der Klärung, ob die Geisel (noch) lebt. In Mittel- und Südamerika spielt im Verhandlungspoker das Anfangsgebot der Familie bzw. des Unternehmens eine wichtige Rolle (Initial Offer). Es liegt oftmals nur bei zehn Prozent der Forderung und wird den Entführern immer zu niedrig sein. Deswegen erfolgen dann Drohungen und schließlich unter Nutzung aller denkbaren Taktiken ein schrittweises Heranverhandeln an einen realistischen Wert, immer das Ziel einer baldigen Freilassung, aber auch die Gefahr der Tötung vor Augen. Die Standards einer Entführung mögen die gleichen sein. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass jeder Fall anders ist. Am Ende der erfolgreichen Verhandlung steht im kidnap-business die Einigung (Agreement). Bis dahin sollte auch die Logistik der Übergabe und der Zeitpunkt der Freilassung geklärt sein. Phase 7: Die LösegeldübergabeDiese Phase ist die wahrscheinlich gefährlichste für die Entführer, weil sie spätestens jetzt aus der Unsichtbarkeit auftauchen und ihre Festnahme riskieren. In der Instruktionsphase wird oft eine Fülle von Durchführungsanweisungen gegeben, die Kommunikationswege werden gewechselt, die Überbringerperson wird bestimmt und auch erneute Drohungen werden ausgeteilt. Die anschließende Lösegeldüberbringungsphase ist oft von einer Fülle von einzelnen Regieanweisungen gekennzeichnet, durch welche die Entführer sicherstellen wollen, dass die Operation nicht unter Polizeibeteiligung oder -beobachtung steht. Die Schnitzeljagd wird oft mit allen nur denkbaren taktischen Tricks durchgeführt. Der Befehl zum "drop" kommt in der Regel überraschend und meistens unter Ausnutzung der Dunkelheit. Der Geldzugriff der Täter folgt zumeist kurz nach dem "drop". Der Geldkurier kann getarnte Polizei oder jemand aus der Familie oder dem Unternehmen sein. Wenn sich der Überbringer genau an die Weisungen hält, ist sein Kurierdienst relativ ungefährlich. Nachdem die Entführer im Besitz des Geldes sind, erfolgt in der Prüfungsphase die Untersuchung des Geldes auf Echtheit, Vollzähligkeit und eventuell gestellte Fallen. Vielfach wird das Geld anschließend sofort untereinander verteilt bzw. an die Dachorganisation zur Verteilung abgegeben. Das Geld ist in aller Regel echt, aber registriert oder fotokopiert. Wenn es die Lage erlaubt, ist es von der Polizei auch präpariert. Der Täter kann sich nie sicher sein, was passiert, wenn er das Geld in Empfang nimmt. Sollten die Täter entkommen, beginnen die Probleme erst jetzt, da das Geld fast nie 1:1 ausgegeben werden kann, sondern verlustbringend "gewaschen" werden muss. Phase 8: Die FreilassungAuch die Umstände der Freilassung sind so verschieden wie die lokalen Umstände der Entführung. Nur selten wird das Opfer gleichzeitig mit der Lösegeldübergabe freigelassen. Unsere Erfahrungen zeigen, dass zwischen Zahlung und Freilassung durchschnittlich dreißig Stunden vergehen, im kürzesten Fall waren es sechs Stunden, im längsten 33 Tage (Reemtsma). In den meisten Entführungsfällen in Drittländern wird die Geisel nachts an einer Straße freigesetzt mit der Möglichkeit, zu telefonieren oder das eigene Haus zu erreichen. Gelegentlich erfolgen Hinweise, wo die Geisel zu finden ist. Es kann jedoch auch passieren, dass das Geld einkassiert wurde und anstelle der Geisel eine neue Forderung kommt. Sind mehrere Personen entführt, muss damit gerechnet werden, dass Geiseln mit dem Ziel erneuter Verhandlungen zurückgehalten werden und das Spiel ebenfalls erneut beginnt. Haben die Entführer den Entscheidungsträger des Unternehmens oder der Familie entführt, muss einkalkuliert werden, dass sie mit ihm Parallelverhandlungen geführt haben. Oftmals im Ergebnis liegt die mit dem Unternehmen oder der Familie ausgehandelte Summe weit darüber. Die Erfahrung zeigt, dass unter dem Druck der erlittenen Strapazen und der erteilten Drohungen die Restsumme sehr bald nachgezahlt wird. Phase 9: Die Betreuung danachSelten werden Opfer physisch gequält, die meisten körperlichen Blessuren sind heilbar. Problematisch sind die nicht sichtbaren Wunden. Einige Entführungsopfer verkraften die Gefangenschaft erstaunlich gut. Viele Opfer leiden noch lange psychisch unter den Folgen der erlittenen Angst und Ungewissheit. Manche Geiseln werden von ihrem psychosomatischen Trauma erst nach langjähriger Behandlung wieder befreit. Die Zeit nach der Freilassung ist für Familie und Opfer in der Regel eine große Belastung und erfordert eine Einbeziehung von Spezialisten, die sowohl das Opfer wie auch die Angehörigen betreuen, die nach einer Entführung mit dem Umgang des Freigelassenen vielfach überfordert sind. Wenn also eine Entführung so systematisch abläuft, liegt die Chance eines Krisenmanagements auf der Hand. Hierbei spielen die Akteure eine wesentliche Rolle. Die Rolle der AkteureEine Entführung ist nie eine Sache des Opfers, der Familie und der Entführer allein. Weitere Akteure sind:
Alle Beteiligten stehen unter einem beträchtlichen emotionalen Druck, nicht nur die Entführer, das Opfer und die Familie – auch die Polizei. Ziel aller Erstmaßnahmen muss es sein, den Kreis der Mitspieler so gering wie möglich zu halten. Dazu muss man die Rolle der einzelnen Bereiche in einer Entführung kennen. (1) Die Rolle der FamilieDie Entführung eines Familienmitgliedes bedeutet für alle Beteiligten eine extreme Ausnahmesituation. Die Normalität ist verschwunden, die Existenz der Familie bedroht. Der psychische Druck ist gewaltig. Man ist auseinandergerissen worden, ohne sich zu verabschieden. Man fürchtet um das Leben des Entführten und man fürchtet, nun falsche Dinge zu machen, die das Leben des Entführten weiter gefährden. Wenn kleine Kinder oder ältere Menschen in der Familie sind, müssen diese betreut werden. Die psychologische Situation lässt sich nur schwer beschreiben. Während der Entführung können sich Phasen der Apathie, Lethargie und Panik ablösen. Stress kann zu verstärkter Solidarität führen. Es entwickelt sich bei den Betroffenen ein Bedürfnis nach Sicherheit, Stabilität, Geborgenheit und Ordnung. Stress in der Entführung kann aber auch zum Aufbruch bisher verdeckter Familienkonflikte führen. Nachgewiesen ist, dass sich bei Angehörigen, die in intensiver Bindung zum Entführten stehen, die Fähigkeit zur rationalen Bewältigung der Konflikte mit der Dauer der Entführung reduziert. Aus diesem Grunde sollten enge Familienangehörige bzw. emotional Betroffene nicht in das Krisenmanagement aktiv involviert werden. Dennoch kann die Familie nicht unbeteiligt bleiben. Abhängig vom Fall können folgende fallbezogene Aufgaben auf sie zukommen:
Die Situation wird besonders belastend, wenn Pannen passieren. Das Lösegeld steht z.B. nicht bereit, die Übergabe schlägt fehl, Lebenszeichen werden nicht beantwortet, die Polizei macht andere Dinge als die Familie will, die Medien berichten trotz Stillhalteabkommen etc. In diesen Situationen wächst der Druck. Man lebt tage- und wochenlang in panischer Angst, einen Fehler zu machen. Der Erfolgsdruck für die Familie ist enorm. Wie verhält sich die Familie? Natürlich gibt es kein Patentrezept. Aber es gibt bewährte Mechanismen, die präventiv helfen können, den Konflikt zu durchstehen, ohne dabei selbst dauerhaft zu seelischem Schaden zu kommen oder gravierende Fehler im Management zu machen. Einige Regeln für Familienmitglieder von entführungsgefährdetem Personal:
- Persönliche Daten,
(2) Die Rolle von Bekannten und FreundenBei einer Entführung melden sich viele Freunde und Bekannte, um Anteil zu nehmen und Trost zu geben. Vielfach ist auch nur Neugierde der Motor. Entscheiden Sie selbst, ob und wem Sie etwas sagen. Aber sagen Sie substanziell nie etwas, was der Sache Schaden zufügen könnte. Da Sie das vielleicht nicht genau überblicken können, sollten Sie persönlich am Telefon nur in Ausnahmefällen präsent sein. Ohnehin würden Sie telefonisch mit einer Geheimnummer abgeschirmt werden. Beziehen Sie auch nicht zu viele Personen in das engere Geschehen ein. Geheimhaltung ist jetzt lebenswichtig. Es hat sich bewährt, wenn ein Bekannter im Freundes- oder weiteren Familienkreis gefunden werden kann, der die Interessen der Familie nach außen wahrnehmen kann. Diese Person sollte
Oft wird diese Koordinationsperson auch nicht benötigt, sondern eher der Koordinator oder der Lösegeldüberbringer. Hierüber sollte dann ruhig im Fall beraten und entschieden werden. (3) Die Rolle des UnternehmensEine Entführung ist immer dann auch eine Unternehmensangelegenheit, wenn der Entführte aus einem Unternehmen stammt, dem durch die Entführung Geld entzogen werden soll. Dieses hat in der Regel Vorteile, weil im Krisenmanagement personelle und fachliche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden können, über die möglicherweise die betroffene Familie in der Regel allein nicht verfügt. In dieser Situation ist von grundlegender Bedeutung, ob sich das Unternehmen auf diese Situation planerisch mit einem Krisenstab vorbereitet hat, in dem die Grundsätze der Reaktion auf eine Entführung sowie Funktionen und Personen definiert sind. Für den Entführer ist das Potential des Unternehmens zugleich eine schwere Hürde, die er bei der Entführung einer firmenunabhängigen reichen Einzelperson nicht hat. (4) Die Rolle der PolizeiUnsere Gesellschaft hat in den letzten zwei Jahrzehnten eine Entwicklung vollzogen, die das Recht der Person auf Leben noch stärker betont als jemals zuvor. Während die 70er Jahre im Kampf gegen die RAF durch Unnachgiebigkeit geprägt waren und Opfer in Kauf genommen wurden (Hanns Martin Schleyer), wird heute zwischen Gefahrenabwehr (Schutz des Lebens) und der Strafverfolgung (Täterfestnahme) wesentlich differenzierter abgewogen. Bei Entführungen ist die Polizei entsprechend ihrer eigenen Vorschriftenlage verpflichtet,
Die Erfahrungen der letzten Entführungen haben klar gezeigt, dass die Polizei zuerst an der unversehrten Befreiung des Opfers interessiert ist, wenngleich die Maßnahmen zur Täterermittlung parallel auf Hochtouren laufen. Außerdem verfügen die Bundesländer und das Bundeskriminalamt heute über geschulte Verhandlungsgruppen und Beratergruppen, die den zuständigen Polizeiführer unterstützen und im Umgang mit einem Erpresser trainiert sind. Von großer Bedeutung ist auch die Möglichkeit der psychologischen Betreuung der Familie während des Falles und nach der Entführung. Während des Falles ist es Zielrichtung, die Familie zu beruhigen und zu stabilisieren sowie auf den weiteren Geschehensablauf, insbesondere Täterkontakte und Übergaben sowie auf das Verhalten der Medien vorzubereiten. In der Entführungssituation kann es zu einem Interessenkonflikt zwischen der Opferfamilie und der Polizei kommen, wenn die Familie fürchtet, dass die Strafverfolgungsmaßnahmen das Leben der Geisel gefährden könnten. Eine derartige Situation trat im Entführungsfall Reemtsma nach der zweiten missglückten Lösegeldübergabe auf. Die Ehefrau schickte die Polizei aus dem Haus, beschaffte sich "frisches" Geld und organisierte die Lösegeldübergabe in eigener Regie. Die Angst der Betroffenen und die Fehler der Polizei in derartigen Lagen nähren immer wieder dieses Misstrauen. Dennoch gibt es im Interesse der Sicherheit zur Einbeziehung und Fallleitung durch die Polizei in westlichen Ländern keine Alternative. Selbst wenn die Polizei von der Familie nicht mehr akzeptiert würde, sie müsste aus den ihr übertragenen gesetzlichen Verpflichtungen im Fall weiterarbeiten, dann eben im Hintergrund und mit der Familie nicht koordiniert. Das wäre in einem Entführungsfall eine schlechte Grundlage für ein erfolgreiches Krisenmanagement. (5) Die Rolle der KrisenberatungExterne Krisenberatung in der Entführung ist im Ausland schon lange selbstverständlich. In Deutschland wird sie wegen der wenigen Fälle nur selten zum Einsatz kommen. Der Spezialberater ist keine Konkurrenz zur Polizei, sondern eher "Anwalt" der Familie in einer spezifischen Angelegenheit. Von der Polizei wird ein Berater vielfach eher als Störfaktor denn als akzeptierter Experte verstanden. Dieses kann anfangs zu Friktionen führen. Die Polizei wird jedoch in aller Regel den Berater akzeptieren, wenn dieser durch die Familie oder das Unternehmen ein entsprechendes Mandat hat und sich als professioneller Experte erweist. Von einem professionellen Berater kann gefordert werden, dass er
Deswegen sollte ein Berater schon vor dem Eintrittsfall persönlich bekannt sein, vorzugsweise durch Prävention in derselben Thematik. (6) Die Rolle der MedienDie Medien sind neben den Tätern die zweite Front. Eine Veröffentlichung zum falschen Zeitpunkt kann fatale Folgen haben. Die durch Artikel 5 des Grundgesetzes garantierte Pressefreiheit darf auch nicht durch eine Entführung beeinträchtigt werden. Zwar gibt es nach dem Geiseldrama von Gladbeck eine Empfehlung des Deutschen Presserates zur Zurückhaltung in der Berichterstattung in Fällen wie Entführung, Geiselnahme etc., letztlich kann aber jeder Journalist frei entscheiden, ob er eine Information der Öffentlichkeit für geboten hält. Freie Mitarbeiter von Presse, Rundfunk und Fernsehen, für die der Pressekodex oft nicht zählt, sind die gefährlichen Multiplikatoren in diesem Prozess. Grundsätzlich wird die Medienpolitik in Entführungslagen restriktiv sein. Niemand der Betroffenen kann ein Interesse an der Veröffentlichung haben. Hat die Presse Kenntnis, kann man ein Stillhalteabkommen vereinbaren, das oft nur wenige Tage hält und insgesamt sofort bricht, wenn ein Organ berichtet. Eine weitere Möglichkeit ist die polizeiinterne Nachrichtensperre, d.h. es werden polizeilich keine Informationen zum Stand des Verfahrens und Inhalt und Umfang der Ermittlungen gegeben. Das eigentliche Medienproblem für die Familie beginnt allerdings erst mit Beendigung der Entführung, wenn die Medien noch tiefer in das Privatleben der Betroffenen einsteigen und die Informationen veröffentlichen, die bis dahin fieberhaft recherchiert wurden. Die VerhandlungenTypische Rahmenbedingungen
Wie wird verhandelt?
Typische Probleme
Das OpferJede Entführung bedeutet eine schwere physische und psychische Ausnahmesituation für das Opfer. Die Ertragbarkeit der Gefangenschaft wird auch davon abhängig sein, unter welchen äußeren Bedingungen die Geiselhaft erfolgt. Die Faktoren für das Überleben sind wesentlich durch die Planung, den Entführer und die Geisel bestimmt. Faktor: Planung/Ablauf
Faktor: Entführer
Faktor: Geisel
Entführungsopfer befinden sich vom Augenblick des Überfalls bis zur Freilassung in einer psychischen Ausnahmesituation. Je nach Krisensituation können heftige Symptome und Reaktionen auftreten Abbildung 3: Typische Reaktionen von Entführungsopfern
Besonderheiten im Krisenmanagement und in der PräventionDas Krisenmanagement in der Entführung hängt davon ab, ob
Das Krisenmanagement hat ferner zu berücksichtigen:
Wichtig ist zu klären, wer für das Fallmanagement zuständig ist. Oft ist der Druck der Familie stark, eine entscheidende Rolle im Lösungsmanagement zu übernehmen. Dieses sollte aus den bekannten Gründen unterbleiben. Es kommt also darauf an, einen kleinen Krisenstab zu bilden, der das Vertrauen der Familie hat und erhält. Typische Positionen: Kernteam
Spezialfunktionen / erweiterter Krisenstab
Die einzelnen Aufgaben ergeben sich aus der Beschreibung der individuellen Teilnehmerrollen. Ein Präventionsprogramm zum Schutz vor Geiselnahme und Entführung sollte nach einem ganzheitlichen Ansatz erfolgen und idealerweise folgende Module beinhalten:
QuelleDieser Beitrag wurde - mit freundlicher Genehmigung des Verlages - der folgenden Publikation auszugsweise entnommen:
Autor
Erstveröffentlichung im Krisennavigator (ISSN 1619-2389): Vervielfältigung und Verbreitung - auch auszugsweise - nur mit ausdrücklicher |
von Jörg Helmut Trauboth
Eine Entführung im polizeitaktischen Sinne liegt vor, wenn Täter Personen zur Durchsetzung ihrer Ziele an einen unbekannten Ort gebracht haben (§ 239a StGB Erpresserischer Menschenraub, § 239b StGB Geiselnahme). Die Polizei spricht von Geiselnahme, wenn der Aufenthaltsort von Entführten bekannt ist.
Geiselnahmen oder Entführungen sind so alt wie die Menschheit selbst. Geiseln wurden traditionell als Bürgen genommen, um Kriegsschulden einzutreiben. Kidnapping hat in Italien eine jahrhundertlange Tradition. Seit 1960 wurden dort über 400 Personen gefangen gesetzt und zum überwiegenden Teil von Angehörigen für Summen bis 35 Millionen Mark freigekauft. Überwiegend dienen sie der Durchsetzung materieller, gelegentlich auch immaterieller Ziele wie soziale, politische oder religiös motivierte Forderungen.
Deutschland ist kein Entführungsland. Seit 1990 verzeichnen wir jährlich ca. 120 Fälle in der Kriminalstatistik, doch gibt es kaum mehr als 20 Entführungen von herausragenden Einzelpersönlichkeiten in den letzten 20 Jahren.
Abbildung 1: Entführungsstatistik (Auswahl)
Theo Albrecht (1971) | Lösegeld: 7 Millionen Mark |
Evelyn Jahn (1973) | Lösegeld: 3 Millionen Mark |
Gernot Egolf (1976) | Lösegeld: 2 Millionen Mark |
Hendrik Snoek (1976) | Lösegeld: 5 Millionen Mark |
Richard Oetker (1976) | Lösegeld: 21 Millionen Mark |
Kronzucker-Kinder (1980) | Lösegeld: unbekannt |
Johannes Erlemann (1981) | Lösegeld: 3 Millionen Mark |
Schlecker-Kinder (1987) | Lösegeld: 9,6 Millionen Mark |
Günther Ragger (1991) | Lösegeld: 10 Millionen Mark |
Jakub Fiszmann (1996) | Lösegeld: 4 Millionen Mark |
Mathias Hinze (1997) | Lösegeld: 1 Million Mark |
Jan Philipp Reemtsma (1998) | Lösegeld: 30 Millionen Mark |
Bodo Jansen (1998) | Lösegeld: 5 Millionen Mark |
Die statistische Wahrscheinlichkeit, entführt zu werden, ist somit in Deutschland äußerst gering. Zählt man jedoch zu dem Personenkreis, der eine hohe Position bekleidet (z.B. Politiker) oder zu den wohlhabenden Persönlichkeiten, steigt das Gefährdungsrisiko sprunghaft. Bekanntheitsgrad ist jedoch kein zwingendes Merkmal. Immer wieder werden auch nicht bekannte Persönlichkeiten mit dem Ziel der Gelderpressung entführt. Häufig besteht dabei eine Täter-Opfer-Beziehung.
Wenige Entführungen mit kleinen Lösegeldforderungen sind bekannt. Der Täter geht durch eine aufwendige Planung und eine hohe Festnahmewahrscheinlichkeit Risiken ein, die ihn in der Regel zwingen, ein neues Leben nach der Entführung zu planen. Die Mehrzahl der Entführten in Deutschland ist männlich, ca. die Hälfte sind Kinder, die meisten zwischen 14–16 Jahre. Knapp 90 Prozent der Entführten kommen lebend frei. Bei den Kindern nur ca. 50 Prozent. Das Tötungsrisiko für Kleinkinder ist geringer, da Täter hier eine niedrigere Identifizierungsangst haben. Es ist am Tag der Entführung am höchsten und sinkt nach vier Tagen deutlich ab. Das Tötungsrisiko ist außerdem bei Einzeltätern ungleich höher so wie bei nichtmaskierten Tätern.
Eine Häufung von Entführungen gibt es nach statistischen Auswertungen von Oktober bis Dezember. Die wenigsten Entführungen erfolgen am Wochenende, vermutlich, weil das Opferverhalten am Wochenende weniger gut eingeschätzt werden kann. Bevorzugte Tage: Donnerstag, Freitag, Montag. Die meisten Entführungen liegen in Zeiten, in denen das Opfer die Wohnung oder das Büro verlässt oder betritt. Die Entführungen finden vorzugsweise auf der Straße statt. Entführungen dauern in Deutschland selten über dreißig Tage.
Bei den Tätern handelt es sich vielfach um bereits einschlägig Vorbestrafte. Hierin liegen die Gefahren für Geiseln. Neben den allgemeinkriminellen Amateuren gibt es Schwerkriminelle (Beispiel Fiszmann) und zusätzlich Profis, die sich intensiv auf den Coup vorbereiten (Beispiel Reemtsma). Die meisten Täter arbeiten in Gruppen von zwei bis drei Personen. Nur gelegentlich sind Frauen auf der Täterseite. Über drei Viertel der Täter zeigen eine hohe Gewaltbereitschaft, ohne dass diese zur Tötung des Opfers führen muss.
In den letzten Jahren verzeichnen wir eine qualitative "Verbesserung" von Tatplanung, Tatsteuerung und Tatorganisation. Das Kommunikationsverhalten von Tätern durch Verwendung von Tonkonserven, Funk, Mobiltelefonen oder Datensystemen hat sich weiter anonymisiert und erschwert die Ermittlungsansätze.
Entführungsgefährdet im Ausland sind wohlhabende Personen auf Reisen in sicherheitskritischen Ländern oder wenn sie in diesen zumindestens zeitweise wohnen. Entführt werden bevorzugt auch "Expatriates" von westlichen, US- oder japanischen Firmen. Als besonders sicherheitskritisch für Westeuropäer gelten derzeit: In Südamerika: Kolumbien, Brasilien, Venezuela. In Mittelamerika: Mexiko. In Westeuropa: Italien. In Osteuropa: Russland, Tschetschenien. Darüber hinaus: Pakistan, Algerien, Jemen.
In Kolumbien, das seit vielen Jahren in der Entführungsstatistik weit vorn liegt, wurden 2001 erstmals über 3000 Entführungen registriert. Entführungen sind zunehmend in Mexiko ("express-kidnap") und auf den Philippinen ein ernsthaftes Problem für Geschäftsleute und Touristen. In Mittel- und Südamerika ist über die Jahre eine regelrechte Entführungsindustrie entstanden. Die Entführungsorganisationen arbeiten grundsätzlich anders als bei uns. Die Überlebenschance beträgt weltweit dennoch über neunzig Prozent. Ca. sieben Prozent sterben bei der Tötung der Entführer (z.B. bei Flucht), durch Verwundungen oder Krankheiten. Die Verweildauer kann Monate betragen (in Kolumbien bis zu zwei Jahre).
Die Verhandlungen in den lateinamerikanischen Ländern führen zumeist zu einer drastischen Senkung der Anfangssumme (initial demand). Die Einigung (settlement) liegt oft bei ca. 20 bis 30 Prozent der anfangs geforderten Summe. Das Geld fließt häufig in politische Guerillabewegungen, die – wie in Kolumbien – ca. 20 bis 30 Expatriates permanent in Entführungshaft haben. Für wohlhabende Einzelpersonen oder deren Angehörige gilt: intensives Studium der Sicherheitsrisiken vor Antritt eine Reise.
Abbildung 2: Lösegeldverhandlungen in Lateinamerika
Eine Entführung ist aus Sicht von professionell vorgehenden Tätern ein Projekt, das lange vorbereitet sein muss, organisatorischen Geschicks und der Kreativität bedarf. Von der Zielauswahl bis zum späteren Geldausgeben darf bei einer professionellen Entführung nichts dem Zufall überlassen bleiben, wenn das Geschäft "Geld gegen lebende Geisel" aufgehen soll. Die Planungsqualität der Täter gibt sofort ersten Aufschluss über deren Professionalität.
Der klassische Ablauf einer Entführung hat – unabhängig, wo sie vorkommt – ein System und beinhaltet in der Regel folgende neun Phasen:
Täter gewinnen die Informationen über die Lukrativität ihrer Opfer aus...
Oft führt ein Foto, eine Nachricht oder ein Interview zu der Entscheidung für eine Person. Begehrt sind Listen über den Reichtum von Einzelpersonen. Professionelle Täter haben mehrere Opfer auf der Liste, wie zu Zeiten der RAF. Je mehr ein potentielles Opfer "low profile" lebt, um so höher ist die Chance, nicht identifiziert zu werden.
Babys und Kleinstkinder werden weniger entführt, weil sie für den Täter zu pflegeintensiv sind, Ehefrauen reicher Einzelpersonen sind eher "Sekundärziele". Die eigentlichen Repräsentanten des Geldes sind in Deutschland unverändert am meisten gefährdet. Besonders gefährdet sind reiche Personen, die sich zurückgezogen haben und nicht mehr im Geschäftsleben stehen (Beispiel Reemtsma). Diese reduzieren aus Sicht der Täter den Mitspielerkreis erheblich.
Nachdem nun die Entscheidung des Täters für ein Ziel getroffen ist, will er in dieser Phase die Machbarkeit der Entführung herausfinden und Aufschluss über die eigenen Risiken gewinnen. Dazu wird er soviel wie möglich an Informationen über das Regelverhalten des Opfers und dessen Umfeld erfahren wollen.
Oft werden wochenlang Wohnhaus, Arbeitsbereich, Schulbereich, Ferienwohnungen etc. observiert. Dieses kann aus dem getarnten Auto, als Spaziergänger, Fahrradfahrer, von einer konstruierten Baustelle, durch Telefonanrufe, Aushorchen von Bekannten etc. erfolgen. Gute Auskunftsgeber sind Kinder und Hauspersonal. Zweck ist es, den bestmöglichen Ort und Zeitpunkt für den geplanten Überfall herauszufinden.
Diese Phase ist für die Entführer wie für den Entführten äußerst risikoreich. Die Täter sind extrem nervös, angespannt, misstrauisch und haben Angst, erkannt zu werden. Alles Unerwartete erleben sie als Angriff. Der Umgang mit Waffen ist zumeist ungeübt. Das Opfer ist fast immer völlig überrascht, oft gelähmt vor Angst oder kämpft in Notwehr um das eigene Leben.
Es wird vielfach Gewalt angewendet, jedoch nicht mit dem Ziel, das Opfer zu töten. Ein totes Opfer ist wertlos, politisch oder finanziell, es sei denn, der Familie kann anschließend vorgetäuscht werden, dass das Opfer lebt. In der Phase des sich abzeichnenden Überfalls hat das Opfer vielleicht eine Chance, durch rechtzeitiges Fliehen mit dem Fahrzeug zu entkommen. Bei gelungenen Überraschungsaktionen sollte sich das Opfer defensiv verhalten und nicht den Helden spielen. Das Opfer wird sehr oft betäubt, es werden die Augen verbunden oder ein Sack über den Körper gezogen.
Gelegentlich werden klare Hinweise hinterlassen, die signalisieren, dass man eine oder mehrere Personen entführt hat und es nicht um Diebstahl oder Raub von Sachwerten geht. Alle Täter hinterlassen Spuren. Mit dem Überfall beginnen somit auch die Ermittlungsarbeiten der Polizei am Tatort.
Wichtigster Grundsatz für eine überfallene Person ist, nicht zu versuchen, die Maskierung vom Kopf des Täters zu reißen. Die Identifizierung eines Täters bedeutet den sofortigen Kollaps der Täterplanung und ist oft das Todesurteil für das Opfer, sofort oder später.
Der Abtransport des Opfers ist für die Täter ein weiteres Problem, bei dem unerwartete Ereignisse auftreten können. (Andere Personen, Fahrzeuge, Schreien des Opfers etc.). Gelegentlich muss das Opfer zu Fuß eine längere Strecke transportiert werden (Reemtsma). Dieses kann physisch mühsam sein oder kritische Zeit kosten. Oftmals wird die Flucht im Wagen des Entführten angetreten und das Fahrzeug bald darauf planmäßig gewechselt. Vielfach wird aus Tarnungsgründen ein geschlossener Lieferwagen gewählt. Das Opfer liegt sonst zusammengekauert im Fond des Autos oder im Kofferraum. Während für die Täter nach einem erfolgreichen Überfall und Verlassen des Tatortes die Erregungsschwelle sinkt und das erste Erfolgserlebnis die Gedanken bestimmt, befindet sich das Opfer in völliger Ungewissheit über sein Schicksal.
Der Angstabbau hängt nun davon ab, wie schnell das Opfer den Vorgang als Entführung realisiert und diese innerlich annimmt. Dieses wird auch davon abhängen, ob die Entführer dem Überfallenen entsprechende erklärende Hinweise zu seiner Situation geben. In der Regel erfolgt dieses in den ersten Stunden nach dem Überfall.
Eine durchorganisierte Entführung wird erst realisiert, wenn die Unterbringung des oder der Opfer über einen längeren Zeitraum gewährleistet ist. Das kann in einer Hütte in abgelegenen Gebieten, in einer Fels- oder Erdhöhle, unter einer Autobahnbrücke, in einem Haus im Keller, in sonstigen abgeschotteten Räumen oder in einer Garage sein, in die ohne auszusteigen eingefahren und in der be- und entladen werden kann.
Im städtischen Bereich und bei kleineren Organisationen kommt es den Entführern darauf an, dass das Opfer möglichst keine Informationen erhält, die zur Täteridentifizierung führen können. Die Opfer werden deswegen oft zusätzlich in völliger Dunkelheit und z.T. gefesselt in Zelten, vorbereiteten Schränken oder Kisten oder zumindest mit verschlossenen Augen verwahrt.
Sie werden den Umständen entsprechend gut versorgt. Die Auswertungen zeigen, dass in über 80 Prozent die Behandlung human war, also z.B. die Versorgung mit Lebensmitteln, Medizin, Lesestoff gegeben war. In einigen Fällen wurden die Opfer bewusst seelischen Torturen ausgesetzt, z.B. durch Scheinexekutionen oder Ankündigungen von Verstümmelungen. Diese erfolgen tatsächlich nur höchst selten.
In Dritte-Welt-Ländern leben Opfer meistens unter ähnlichen Bedingungen wie ihre Bewacher, oftmals besser. Die Verstecke werden oft gewechselt. Dieses kann nächtelanges Marschieren bedeuten. Es gibt Fälle, in denen die Opfer oder deren Gepäck getragen wurden, es gibt aber vereinzelt Todesfälle als Folge körperlicher Gebrechen.
Das Opfer wird also in aller Regel körperlich intakt gehalten, leidet in Dritte-Welt-Ländern meistens unter Mückenstichen und Durchfall, und steht in fast allen Fällen unter erheblichem psychischen Druck.
Meistens erfolgt schon wenige Stunden oder Tage nach der Entführung die erste Kontaktaufnahme mit dem persönlichen oder dem geschäftlichen Bereich des Entführten. Die Verhandlungen mit Entführern stehen unter einer klaren Zielvorgabe: Die Täter wollen möglichst viel Geld, die Familie möglichst bald eine unversehrte Geisel zurück. Die Täter haben die Initiative des Handelns und mit dem Leben der Geisel die erforderlichen Druckmittel. Fast immer gilt:
Verhandlungen in einer Entführung oder Geiselnahme gehören zu den schwierigsten Aufgaben bei dem intellektuellen Kampf um ein Menschenleben. In diesem Schachspiel Leben gegen Geld müssen Täter- und Opferpsychologie und die individuellen Fallumstände berücksichtigt werden.
In Deutschland wird diese Aufgabe in der Regel durch die Verhandlungsgruppe und Beratergruppe der Polizei wahrgenommen. Der Verhandlungsführer/Unterhändler kann sich physisch bei der Familie oder außerhalb befinden. Insbesondere muss er in der Lage sein, ein Vertrauensverhältnis zur Täterseite herzustellen und im Rahmen der vorgegebenen Strategie die einzelnen Teilziele zu erreichen.
Dabei erfolgt die Kommunikation nach Möglichkeit in beiderseitigem Interesse an definierten Tagen zu bestimmten Zeiten ("windows") und möglichst über eine festgelegte Telefonnummer. In den meisten Fällen werden Telefongespräche bevorzugt, weniger der Briefkontakt, häufiger Anzeigen und nur selten ein persönlicher Kontakt ("face to face"). Die Telephongespräche sind meistens kurz. Die Briefe kommen per Post oder werden so platziert, dass sie einfach gefunden werden können. Der geforderte Geldbetrag ist vielfach ein Betrag in Millionenhöhe. Die Obergrenze (Reemtsma) liegt derzeit bei 30 Millionen Mark.
Der Verhandlungsprozess lässt sich, wie irrtümlich oft angenommen wird, durch schnelles Eingehen auf die Forderung nicht verkürzen. Dieses führt vielfach zu einer unmittelbaren Aufstockung der Forderung. Es ist also von entscheidender Bedeutung, welche Strategie und Taktik angewendet werden soll. Dazu gehört, dass schon bei Beginn der Verhandlungen ein Beweis dafür erbracht wird, dass der Entführte im Gewahrsam der Geldforderer ist und vor allem lebt (Lebensbeweis / Proof of Life - POL). Dieser POL ist in allen folgenden entscheidenden Verhandlungsphasen jeweils abzurufen, insbesondere vor der Einigung und vor der Geldübergabe. Der Lebensbeweis kann z.B. eine Videoaufnahme sein oder eine aktuelle Information aus dem persönlichen oder geschäftlichen Bereich, die nur der Entführte geben kann.
In der Verhandlungsphase besteht gelegentlich die Möglichkeit, briefliche Kontakte zwischen dem Entführten und den Angehörigen herzustellen oder Kleidung und Medikamente hinzuführen. In Kolumbien verfügen die großen Organisationen über eigene Ärzte oder organisieren ärztliche Hilfe für den Entführten.
Die Verhandlungen werden besonders dann schwierig, wenn mehrere Personen entführt worden sind und damit die Wahrscheinlichkeit der Tötung einer Person höher ist. Ohnehin werden Tötungen bzw. Verstümmelungen zwischendurch angedroht oder auch mit der Entführung weiterer Personen gedroht. Zeit und Angst sind also die Waffen der anderen Seite.
Der Fortgang der Verhandlungen wird durch den individuellen Fall bestimmt. Dabei steht in Deutschland die Höhe der Lösegeldforderung eher im Hintergrund (anders als in Dritte-Welt-Ländern). Im Vordergrund steht die Auseinandersetzung mit den technischen und logistischen Forderungen sowie der Klärung, ob die Geisel (noch) lebt.
In Mittel- und Südamerika spielt im Verhandlungspoker das Anfangsgebot der Familie bzw. des Unternehmens eine wichtige Rolle (Initial Offer). Es liegt oftmals nur bei zehn Prozent der Forderung und wird den Entführern immer zu niedrig sein. Deswegen erfolgen dann Drohungen und schließlich unter Nutzung aller denkbaren Taktiken ein schrittweises Heranverhandeln an einen realistischen Wert, immer das Ziel einer baldigen Freilassung, aber auch die Gefahr der Tötung vor Augen.
Die Standards einer Entführung mögen die gleichen sein. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass jeder Fall anders ist. Am Ende der erfolgreichen Verhandlung steht im kidnap-business die Einigung (Agreement). Bis dahin sollte auch die Logistik der Übergabe und der Zeitpunkt der Freilassung geklärt sein.
Diese Phase ist die wahrscheinlich gefährlichste für die Entführer, weil sie spätestens jetzt aus der Unsichtbarkeit auftauchen und ihre Festnahme riskieren. In der Instruktionsphase wird oft eine Fülle von Durchführungsanweisungen gegeben, die Kommunikationswege werden gewechselt, die Überbringerperson wird bestimmt und auch erneute Drohungen werden ausgeteilt.
Die anschließende Lösegeldüberbringungsphase ist oft von einer Fülle von einzelnen Regieanweisungen gekennzeichnet, durch welche die Entführer sicherstellen wollen, dass die Operation nicht unter Polizeibeteiligung oder -beobachtung steht. Die Schnitzeljagd wird oft mit allen nur denkbaren taktischen Tricks durchgeführt. Der Befehl zum "drop" kommt in der Regel überraschend und meistens unter Ausnutzung der Dunkelheit. Der Geldzugriff der Täter folgt zumeist kurz nach dem "drop".
Der Geldkurier kann getarnte Polizei oder jemand aus der Familie oder dem Unternehmen sein. Wenn sich der Überbringer genau an die Weisungen hält, ist sein Kurierdienst relativ ungefährlich. Nachdem die Entführer im Besitz des Geldes sind, erfolgt in der Prüfungsphase die Untersuchung des Geldes auf Echtheit, Vollzähligkeit und eventuell gestellte Fallen. Vielfach wird das Geld anschließend sofort untereinander verteilt bzw. an die Dachorganisation zur Verteilung abgegeben.
Das Geld ist in aller Regel echt, aber registriert oder fotokopiert. Wenn es die Lage erlaubt, ist es von der Polizei auch präpariert. Der Täter kann sich nie sicher sein, was passiert, wenn er das Geld in Empfang nimmt. Sollten die Täter entkommen, beginnen die Probleme erst jetzt, da das Geld fast nie 1:1 ausgegeben werden kann, sondern verlustbringend "gewaschen" werden muss.
Auch die Umstände der Freilassung sind so verschieden wie die lokalen Umstände der Entführung. Nur selten wird das Opfer gleichzeitig mit der Lösegeldübergabe freigelassen. Unsere Erfahrungen zeigen, dass zwischen Zahlung und Freilassung durchschnittlich dreißig Stunden vergehen, im kürzesten Fall waren es sechs Stunden, im längsten 33 Tage (Reemtsma).
In den meisten Entführungsfällen in Drittländern wird die Geisel nachts an einer Straße freigesetzt mit der Möglichkeit, zu telefonieren oder das eigene Haus zu erreichen. Gelegentlich erfolgen Hinweise, wo die Geisel zu finden ist. Es kann jedoch auch passieren, dass das Geld einkassiert wurde und anstelle der Geisel eine neue Forderung kommt. Sind mehrere Personen entführt, muss damit gerechnet werden, dass Geiseln mit dem Ziel erneuter Verhandlungen zurückgehalten werden und das Spiel ebenfalls erneut beginnt.
Haben die Entführer den Entscheidungsträger des Unternehmens oder der Familie entführt, muss einkalkuliert werden, dass sie mit ihm Parallelverhandlungen geführt haben. Oftmals im Ergebnis liegt die mit dem Unternehmen oder der Familie ausgehandelte Summe weit darüber. Die Erfahrung zeigt, dass unter dem Druck der erlittenen Strapazen und der erteilten Drohungen die Restsumme sehr bald nachgezahlt wird.
Selten werden Opfer physisch gequält, die meisten körperlichen Blessuren sind heilbar. Problematisch sind die nicht sichtbaren Wunden. Einige Entführungsopfer verkraften die Gefangenschaft erstaunlich gut. Viele Opfer leiden noch lange psychisch unter den Folgen der erlittenen Angst und Ungewissheit. Manche Geiseln werden von ihrem psychosomatischen Trauma erst nach langjähriger Behandlung wieder befreit. Die Zeit nach der Freilassung ist für Familie und Opfer in der Regel eine große Belastung und erfordert eine Einbeziehung von Spezialisten, die sowohl das Opfer wie auch die Angehörigen betreuen, die nach einer Entführung mit dem Umgang des Freigelassenen vielfach überfordert sind.
Wenn also eine Entführung so systematisch abläuft, liegt die Chance eines Krisenmanagements auf der Hand. Hierbei spielen die Akteure eine wesentliche Rolle.
Eine Entführung ist nie eine Sache des Opfers, der Familie und der Entführer allein. Weitere Akteure sind:
Alle Beteiligten stehen unter einem beträchtlichen emotionalen Druck, nicht nur die Entführer, das Opfer und die Familie – auch die Polizei. Ziel aller Erstmaßnahmen muss es sein, den Kreis der Mitspieler so gering wie möglich zu halten. Dazu muss man die Rolle der einzelnen Bereiche in einer Entführung kennen.
Die Entführung eines Familienmitgliedes bedeutet für alle Beteiligten eine extreme Ausnahmesituation. Die Normalität ist verschwunden, die Existenz der Familie bedroht. Der psychische Druck ist gewaltig. Man ist auseinandergerissen worden, ohne sich zu verabschieden. Man fürchtet um das Leben des Entführten und man fürchtet, nun falsche Dinge zu machen, die das Leben des Entführten weiter gefährden. Wenn kleine Kinder oder ältere Menschen in der Familie sind, müssen diese betreut werden.
Die psychologische Situation lässt sich nur schwer beschreiben. Während der Entführung können sich Phasen der Apathie, Lethargie und Panik ablösen. Stress kann zu verstärkter Solidarität führen. Es entwickelt sich bei den Betroffenen ein Bedürfnis nach Sicherheit, Stabilität, Geborgenheit und Ordnung. Stress in der Entführung kann aber auch zum Aufbruch bisher verdeckter Familienkonflikte führen.
Nachgewiesen ist, dass sich bei Angehörigen, die in intensiver Bindung zum Entführten stehen, die Fähigkeit zur rationalen Bewältigung der Konflikte mit der Dauer der Entführung reduziert. Aus diesem Grunde sollten enge Familienangehörige bzw. emotional Betroffene nicht in das Krisenmanagement aktiv involviert werden.
Dennoch kann die Familie nicht unbeteiligt bleiben. Abhängig vom Fall können folgende fallbezogene Aufgaben auf sie zukommen:
Die Situation wird besonders belastend, wenn Pannen passieren. Das Lösegeld steht z.B. nicht bereit, die Übergabe schlägt fehl, Lebenszeichen werden nicht beantwortet, die Polizei macht andere Dinge als die Familie will, die Medien berichten trotz Stillhalteabkommen etc.
In diesen Situationen wächst der Druck. Man lebt tage- und wochenlang in panischer Angst, einen Fehler zu machen. Der Erfolgsdruck für die Familie ist enorm. Wie verhält sich die Familie? Natürlich gibt es kein Patentrezept. Aber es gibt bewährte Mechanismen, die präventiv helfen können, den Konflikt zu durchstehen, ohne dabei selbst dauerhaft zu seelischem Schaden zu kommen oder gravierende Fehler im Management zu machen.
Einige Regeln für Familienmitglieder von entführungsgefährdetem Personal:
- Persönliche Daten,
- Ausweise (mit Nummern),
- Wohnsitze,
- Körperbeschreibung,
- Besondere Merkmale,
- Medizinische Informationen,
- Ärzte,
- Benötigte Medikamente,
- Ehegatte, Partner, Kinder,
- Kraftfahrzeuge (Daten),
- Lebensbeweisfragen,
- Fingerabdrücke,
- Genetischer Fingerabdruck,
- Schriftprobe,
- Foto.
- Kommunikation zu den Entführern,
- Verhandlungstaktik mit den Entführern,
- Umgang mit den Medien,
- Präparierung des Geldes,
- Präparierung des Lösegeld- oder Fluchtfahrzeuges,
- Ersatz eines familiären Verhandlers oder
Lösegeldüberbringers durch ein Polizei-Double,
- Observierung der Lösegeldübergabe,
- Festnahmestrategie bei Lösegeldübergabe,
- Gewaltsame Befreiung der Geisel.
Bei einer Entführung melden sich viele Freunde und Bekannte, um Anteil zu nehmen und Trost zu geben. Vielfach ist auch nur Neugierde der Motor. Entscheiden Sie selbst, ob und wem Sie etwas sagen. Aber sagen Sie substanziell nie etwas, was der Sache Schaden zufügen könnte. Da Sie das vielleicht nicht genau überblicken können, sollten Sie persönlich am Telefon nur in Ausnahmefällen präsent sein. Ohnehin würden Sie telefonisch mit einer Geheimnummer abgeschirmt werden. Beziehen Sie auch nicht zu viele Personen in das engere Geschehen ein. Geheimhaltung ist jetzt lebenswichtig.
Es hat sich bewährt, wenn ein Bekannter im Freundes- oder weiteren Familienkreis gefunden werden kann, der die Interessen der Familie nach außen wahrnehmen kann. Diese Person sollte
Oft wird diese Koordinationsperson auch nicht benötigt, sondern eher der Koordinator oder der Lösegeldüberbringer. Hierüber sollte dann ruhig im Fall beraten und entschieden werden.
Eine Entführung ist immer dann auch eine Unternehmensangelegenheit, wenn der Entführte aus einem Unternehmen stammt, dem durch die Entführung Geld entzogen werden soll. Dieses hat in der Regel Vorteile, weil im Krisenmanagement personelle und fachliche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden können, über die möglicherweise die betroffene Familie in der Regel allein nicht verfügt.
In dieser Situation ist von grundlegender Bedeutung, ob sich das Unternehmen auf diese Situation planerisch mit einem Krisenstab vorbereitet hat, in dem die Grundsätze der Reaktion auf eine Entführung sowie Funktionen und Personen definiert sind. Für den Entführer ist das Potential des Unternehmens zugleich eine schwere Hürde, die er bei der Entführung einer firmenunabhängigen reichen Einzelperson nicht hat.
Unsere Gesellschaft hat in den letzten zwei Jahrzehnten eine Entwicklung vollzogen, die das Recht der Person auf Leben noch stärker betont als jemals zuvor. Während die 70er Jahre im Kampf gegen die RAF durch Unnachgiebigkeit geprägt waren und Opfer in Kauf genommen wurden (Hanns Martin Schleyer), wird heute zwischen Gefahrenabwehr (Schutz des Lebens) und der Strafverfolgung (Täterfestnahme) wesentlich differenzierter abgewogen.
Bei Entführungen ist die Polizei entsprechend ihrer eigenen Vorschriftenlage verpflichtet,
Die Erfahrungen der letzten Entführungen haben klar gezeigt, dass die Polizei zuerst an der unversehrten Befreiung des Opfers interessiert ist, wenngleich die Maßnahmen zur Täterermittlung parallel auf Hochtouren laufen. Außerdem verfügen die Bundesländer und das Bundeskriminalamt heute über geschulte Verhandlungsgruppen und Beratergruppen, die den zuständigen Polizeiführer unterstützen und im Umgang mit einem Erpresser trainiert sind.
Von großer Bedeutung ist auch die Möglichkeit der psychologischen Betreuung der Familie während des Falles und nach der Entführung. Während des Falles ist es Zielrichtung, die Familie zu beruhigen und zu stabilisieren sowie auf den weiteren Geschehensablauf, insbesondere Täterkontakte und Übergaben sowie auf das Verhalten der Medien vorzubereiten.
In der Entführungssituation kann es zu einem Interessenkonflikt zwischen der Opferfamilie und der Polizei kommen, wenn die Familie fürchtet, dass die Strafverfolgungsmaßnahmen das Leben der Geisel gefährden könnten. Eine derartige Situation trat im Entführungsfall Reemtsma nach der zweiten missglückten Lösegeldübergabe auf. Die Ehefrau schickte die Polizei aus dem Haus, beschaffte sich "frisches" Geld und organisierte die Lösegeldübergabe in eigener Regie. Die Angst der Betroffenen und die Fehler der Polizei in derartigen Lagen nähren immer wieder dieses Misstrauen. Dennoch gibt es im Interesse der Sicherheit zur Einbeziehung und Fallleitung durch die Polizei in westlichen Ländern keine Alternative. Selbst wenn die Polizei von der Familie nicht mehr akzeptiert würde, sie müsste aus den ihr übertragenen gesetzlichen Verpflichtungen im Fall weiterarbeiten, dann eben im Hintergrund und mit der Familie nicht koordiniert. Das wäre in einem Entführungsfall eine schlechte Grundlage für ein erfolgreiches Krisenmanagement.
Externe Krisenberatung in der Entführung ist im Ausland schon lange selbstverständlich. In Deutschland wird sie wegen der wenigen Fälle nur selten zum Einsatz kommen. Der Spezialberater ist keine Konkurrenz zur Polizei, sondern eher "Anwalt" der Familie in einer spezifischen Angelegenheit. Von der Polizei wird ein Berater vielfach eher als Störfaktor denn als akzeptierter Experte verstanden. Dieses kann anfangs zu Friktionen führen. Die Polizei wird jedoch in aller Regel den Berater akzeptieren, wenn dieser durch die Familie oder das Unternehmen ein entsprechendes Mandat hat und sich als professioneller Experte erweist.
Von einem professionellen Berater kann gefordert werden, dass er
Deswegen sollte ein Berater schon vor dem Eintrittsfall persönlich bekannt sein, vorzugsweise durch Prävention in derselben Thematik.
Die Medien sind neben den Tätern die zweite Front. Eine Veröffentlichung zum falschen Zeitpunkt kann fatale Folgen haben. Die durch Artikel 5 des Grundgesetzes garantierte Pressefreiheit darf auch nicht durch eine Entführung beeinträchtigt werden. Zwar gibt es nach dem Geiseldrama von Gladbeck eine Empfehlung des Deutschen Presserates zur Zurückhaltung in der Berichterstattung in Fällen wie Entführung, Geiselnahme etc., letztlich kann aber jeder Journalist frei entscheiden, ob er eine Information der Öffentlichkeit für geboten hält. Freie Mitarbeiter von Presse, Rundfunk und Fernsehen, für die der Pressekodex oft nicht zählt, sind die gefährlichen Multiplikatoren in diesem Prozess.
Grundsätzlich wird die Medienpolitik in Entführungslagen restriktiv sein. Niemand der Betroffenen kann ein Interesse an der Veröffentlichung haben. Hat die Presse Kenntnis, kann man ein Stillhalteabkommen vereinbaren, das oft nur wenige Tage hält und insgesamt sofort bricht, wenn ein Organ berichtet. Eine weitere Möglichkeit ist die polizeiinterne Nachrichtensperre, d.h. es werden polizeilich keine Informationen zum Stand des Verfahrens und Inhalt und Umfang der Ermittlungen gegeben.
Das eigentliche Medienproblem für die Familie beginnt allerdings erst mit Beendigung der Entführung, wenn die Medien noch tiefer in das Privatleben der Betroffenen einsteigen und die Informationen veröffentlichen, die bis dahin fieberhaft recherchiert wurden.
Typische Rahmenbedingungen
Wie wird verhandelt?
Typische Probleme
Jede Entführung bedeutet eine schwere physische und psychische Ausnahmesituation für das Opfer. Die Ertragbarkeit der Gefangenschaft wird auch davon abhängig sein, unter welchen äußeren Bedingungen die Geiselhaft erfolgt. Die Faktoren für das Überleben sind wesentlich durch die Planung, den Entführer und die Geisel bestimmt.
Faktor: Planung/Ablauf
Faktor: Entführer
Faktor: Geisel
Entführungsopfer befinden sich vom Augenblick des Überfalls bis zur Freilassung in einer psychischen Ausnahmesituation. Je nach Krisensituation können heftige Symptome und Reaktionen auftreten
Abbildung 3: Typische Reaktionen von Entführungsopfern
Symptome | Reaktionen |
Zweifel | Verlust der Fähigkeit, eine gute Fluchtchance wahrzunehmen; Fehlverhalten bei Instruktionen. |
Furcht | Inneres "Erstarren". Unkontrollierte Körperfunktionen. "Stockholm-Syndrom". |
Panik | Irrationale Fluchtversuche. Schreien, Zittern, Krämpfe, Todesfurcht Schuldig fühlen Selbstvorwürfe wegen mangelnder Sicherheit und Vorbereitung. Sorge um das Wohlergehen der Familie. Verlust des Selbstwertgefühls. |
Wut | Wutanfälle, verbale und körperliche Angriffe auf Entführer. |
Überempfindlichkeit | Verlust des Vertrauens. Irrationalität. Eigene Verhandlungen |
Das Krisenmanagement in der Entführung hängt davon ab, ob
Das Krisenmanagement hat ferner zu berücksichtigen:
Wichtig ist zu klären, wer für das Fallmanagement zuständig ist. Oft ist der Druck der Familie stark, eine entscheidende Rolle im Lösungsmanagement zu übernehmen. Dieses sollte aus den bekannten Gründen unterbleiben. Es kommt also darauf an, einen kleinen Krisenstab zu bilden, der das Vertrauen der Familie hat und erhält. Typische Positionen:
Die einzelnen Aufgaben ergeben sich aus der Beschreibung der individuellen Teilnehmerrollen. Ein Präventionsprogramm zum Schutz vor Geiselnahme und Entführung sollte nach einem ganzheitlichen Ansatz erfolgen und idealerweise folgende Module beinhalten:
Dieser Beitrag wurde - mit freundlicher Genehmigung des Verlages - der folgenden Publikation auszugsweise entnommen:
Jörg Helmut Trauboth, |
Trauboth Risk Management GmbH |
Erstveröffentlichung im Krisennavigator (ISSN 1619-2389):
5. Jahrgang (2002), Ausgabe 12 (Dezember)
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Letzte Aktualisierung: Sonntag, 13. Oktober 2024
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